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COVID19 - Impfstoffentwicklung und Innovationsethik

Fest steht: je schneller ein Impfstoff gefunden wird, desto schneller lässt sich die Pandemie eindämmen. Klar ist jedoch auch, dass es Monate dauert bis ein solcher Impfstoff gefunden, getestet und zugelassen ist. Ist es angesichts der Dringlichkeit der Corona-Krise nicht geboten, diesen sonst langwierigen Prozess zu beschleunigen, indem die hohen regulatorischen Hürden gesenkt und die Anforderungen an eine Zulassung gelockert werden? Hier wird klar: die Suche nach einem Impfstoff ist ein Innovationsprozess, der ethische Fragen aufwirft. Ein Beitrag von Sebastian Drosselmeier.

Nur selten hat es in der jüngeren Vergangenheit Europas Ereignisse gegeben, die das öffentliche Zusammenleben derart drastisch verändert haben wie die in den letzten Tagen sukzessive beschlossenen Massnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie. Der Weg zur Arbeit, die Betreuung von Kindern, selbst die Beschaffung von Lebensmitteln - was bis vor kurzem noch alltäglich war, entwickelt sich zunehmend zur Ausnahmesituation. Doch während der Alltag in Teilen zum Erliegen kommt, arbeiten Forscher*innen-Teams weltweit unter Hochdruck an der Entwicklung eines Medikamentes gegen COVID-19 sowie eines Impfstoffes, der die weitere Verbreitung von SARS-CoV-2 unterbinden kann. Fest steht: je schneller ein Impfstoff gefunden wird, desto schneller lässt sich die Pandemie eindämmen und weniger Menschen werden an den Folgen der Atemwegserkrankung sterben. Klar ist jedoch auch, dass es Monate, mitunter Jahre dauern kann, bis ein solcher Impfstoff gefunden, getestet und zugelassen ist und letztlich der Bevölkerung zur Verfügung gestellt werden kann. Doch ist es angesichts der Dringlichkeit der Corona-Krise nicht geboten, diesen sonst langwierigen Prozess zu beschleunigen, indem die hohen regulatorischen Hürden gesenkt und die Anforderungen an eine Zulassung gelockert werden? An dieser Stelle wird deutlich, dass auch die Suche nach einem Impfstoff als Innovationsprozess aufgefasst werden kann, der ethische Fragen aufwirft.

Wie verläuft die Suche nach einem Impfstoff?

Der Innovationsprozess eines Impfstoffes lässt sich in sechs Schritte unterteilen. Zunächst wird das Virus analysiert und festgestellt, wodurch COVID-19 hervorgerufen wird. Bereits am 13. Januar 2020 wurde die vollständige Genomsequenz des neuartigen Coronavirus veröffentlicht.  Daraufhin beginnt die eigentliche Suche nach einem Impfstoff, beispielsweise durch die Verwendung von mRNA-Molekülen. Wurde ein potentieller Impfstoff identifiziert, so wird dieser zunächst mit Tieren (vorklinische Phase) und anschliessend mit Freiwilligen erprobt. In der ersten klinischen Phase erfolgt die Erprobung zunächst an einer kleinen Gruppe, in der zweiten und dritten Phase dann jeweils mit einigen und mehreren tausend Menschen. Auf diese Weise sollen Wirksamkeit und Verträglichkeit des Wirkstoffes sichergestellt werden. Im vorletzten Schritt folgen die individuellen Zulassungsverfahren: in der Schweiz erfolgt die Zulassung durch Swissmedic, das Schweizerische Heilmittelinstitut, in der EU beispielsweise durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) und in den USA durch die U.S. Food and Drug Administration (FDA).  Die Behörden prüfen dabei, ob die klinischen Tests korrekt durchgeführt wurden. Ist die Zulassung erteilt, beginnt die Massenproduktion des Impfstoffes, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. 

Welche innovationsethischen Fragen stellen sich?

Der Zweck des langatmig wirkenden Zulassungsprozesses ist es, sicherzustellen, dass die Mittel zum einen wirksam und zum anderen verträglich sind. Wirksamkeit bedeutet hier, dass ein Mittel auch nachweislich Schutz vor Infektionskrankheiten bietet. Verträglichkeit meint dagegen, dass das Mittel keine unerwünschten Nebenwirkungen hervorruft, welche zu einer Schädigung der geimpften Personen führen. Wirksamkeit und Verträglichkeit spiegeln demnach zwei zentrale Prinzipien der biomedizinischen Ethik wider: Fürsorge und Schadensvermeidung.

Während eindeutig ist, dass weder die Extreme der absoluten Sicherheit noch der vollständigen Fahrlässigkeit ethisch zulässig sein können, so muss für eine vertretbare Mittelposition das Risiko zum Ausmass der Notsituation in einem Verhältnis stehen, das mit etablierten risikoethischen Prinzipien vereinbar ist.

Insbesondere die Suche nach einem SARS-CoV-2-Impfstoff macht deutlich, dass beide Ansprüche in einem Spannungsverhältnis stehen können, welches gerade durch strenge Zulassungsverfahren abgemildert werden soll. So ist es möglich, dass ein Impfstoff zwar die gewünschte Wirksamkeit gegen SARS-CoV-2 aufweist, jedoch gleichzeitig zu anderen, nicht beabsichtigten Schädigungen führt. Um ein solches Szenario auszuschliessen, finden nicht nur unterschiedliche Phasen klinischer Studien statt, sondern erfolgt letztlich auch eine weitere Überprüfung dieser Studien selbst. Es stellt sich somit zunächst die Frage, ob und inwiefern sich das Spannungsverhältnis zwischen Fürsorge und Schadensvermeidung verschiebt, wenn Zulassungsverfahren beschleunigt werden. Diese Frage lässt sich nicht ohne detaillierte biomedizinische Kenntnisse beantworten. Die entscheidende ethische Frage stellt sich jedoch unmittelbar im Anschluss: Welches Mass an Risiko lässt sich rechtfertigen? Während eindeutig ist, dass weder die Extreme der absoluten Sicherheit noch der vollständigen Fahrlässigkeit ethisch zulässig sein können, so muss für eine vertretbare Mittelposition das Risiko zum Ausmass der Notsituation in einem Verhältnis stehen, das mit etablierten risikoethischen Prinzipien vereinbar ist. Besonders einschlägig sind dabei das Maximin-Prinzip sowie das Zustimmungskriterium. Ersterem zufolge sollte in einer Entscheidungssituation unter Risiko diejenige Option gewählt werden, welche einen zu erwartenden Maximalschaden möglichst niedrig hält. Entscheidend wäre in dieser Situation also ein Vergleich möglicher Worst-Case-Szenarien. Das Zustimmungskriterium dagegen betont, dass die Auferlegung eines Risikos nur nach Einwilligung der betroffenen Personen erfolgen darf. Beiden Erfordernissen kann, so scheint es, in der nun eingetretenen Situation Rechnung getragen werden.

Wer übernimmt die Verantwortung?

Eine zweite innovationsethische Frage stellt sich mit Blick auf die Zuschreibung von Verantwortung. Der Weg von der Analyse eines Virus hin zur Massenproduktion eines Impfstoffes verläuft in mehreren Schritten, die unterschiedliche Akteure einbeziehen. So sind es meist universitäre Forscher*innen, die sich mit der Entschlüsselung der Genomsequenz des Virus befassen, jedoch Pharmaunternehmen, die die Erforschung und Erprobung von Impfstoffen veranlassen und letztlich nationale und internationale Behörden, die für die Zulassung der Mittel zuständig sind. Insbesondere in einem beschleunigten Zulassungsprozess kann dadurch zunächst unklar sein, welcher Akteur wie viel Verantwortung für mögliche Folgen trägt. Gleichzeitig kann eine unklare Erwartungshaltung gegenüber den am Innovationsprozess beteiligten Akteuren entstehen, welche durch die Dringlichkeit der Beendigung des gegenwärtigen Ausnahmezustands hervorgerufen wird. Denn nicht nur die Angst vor den gesundheitlichen Folgen einer Infektion, sondern auch die politischen Massnahmen zur Verhinderung einer weiteren Verbreitung des Virus sind für eine Gesellschaft, die sich daran gewöhnt hat, durch Impfungen vor einer Vielzahl von Erregern geschützt zu sein, nur schwer zu ertragen. Und es scheint unwahrscheinlich, dass ohne eine zeitnah verfügbare Impfung oder zumindest ein wirksames Medikament die Rückkehr zur Normalität bald wird stattfinden können.